N. 68 Oktober 2016

Der 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge im März 2017 in Rom: die Zukunft Europas am Scheideweg

Die Botschaft, die der Europäische Rat und die nationalen Regierungen seit einigen Monaten an die Bürger Europas aussenden, ist verheerend. In einer kritischen Phase, in der mehr denn je tatkräftiges Handeln und die Fähigkeit, Initiativen zu entwickeln, gefordert wären, haben wir es mit einem Rat zu tun, der sich politischen Konzepten verweigert und sich stattdessen – wie Jürgen Habermas es bereits im vergangenen Sommer formuliert hat – einem „rasenden Stillstand“ verschrieben hat, sowie mit Regierungen, die sich verzweifelt um unmögliche nationale Lösungen für die verschiedenen Krisen bemühen. Weder das eine noch das andere hat etwas mit Regieren zu tun, was zu einem steigenden Misstrauen gegen die Institutionen führt und den Glauben an die Zukunft in zunehmendem Maße erschüttert. Und damit greifen auch die Egoismen in der Gesellschaft weiter um sich.

Europa – wie der Westen insgesamt – durchlebt derzeit eine Wertekrise, die in dramatischer Weise an die Ereignisse auf unserem Kontinent in den Jahrzehnten zwischen den beiden Weltkriegen erinnert. Die zunehmende gegenseitige globale Abhängigkeit, der die führenden Akteure und die Institutionen keine politische Kompetenz entgegenzusetzen haben, die die Zusammenarbeit gewährleisten könnte, verwandelt das internationale Zusammenleben in einen aggressiven Wettbewerb mit unkontrollierbaren Folgen und Auswirkungen. Europa ist der Knotenpunkt dieser in Unordnung geratenen Welt, in der die westlichen Länder, die die wirtschaftliche und in Gestalt der Vereinigten Staaten daneben auch die politische und militärische Führungsrolle innehatten, den seinerseits ungeordneten und voller Widersprüche verlaufenden Aufstieg der Länder und Kontinente, die früher als benachteiligte Partner galten, nunmehr als Bedrohung empfinden. Zwar ist die Europäische Union die am stärksten entwickelte Wirtschaftsregion der Welt, dennoch stellt sie auch 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der UDSSR und dem Ende der privilegierten Achse mit den Vereinigten Staaten weiterhin ein enormes Vakuum auf der internationalen Bühne dar, und zwar sowohl was das Kräftegleichgewicht als auch die von der Europäischen Union verkörperten Werte und die politische Kultur, für die sie steht, anbelangt; es ist ihr nämlich nicht gelungen, weder die nationalistischen Idole endgültig zu besiegen noch einer neuen Konzeption einer post-nationalen föderalen politischen Gemeinschaft Geltung zu verschaffen.

Und doch wäre die Welt in der gegenwärtigen Lage dringend auf die politische und kulturelle Führerschaft Europas angewiesen, die einer Ideologie Ausdruck verleihen könnte, die sich das Bemühen um Stabilität und Zusammenarbeit zum Ziel gesetzt hat. Noch wichtiger wäre es für die Welt, dass sich die moralischen, geschichtlichen und politischen Parameter, auf die sich bislang einzig und allein der europäische Einigungsprozess beruft und stützt, durchsetzen und die Grundlage für solide Institutionen bilden – Parameter, die sich jedoch nur bei einem Erfolg dieses Prozesses weltweit durchsetzen können.

Dies war im Kern der tiefere Sinn der Ausführungen Renzis, als er in diesem Sommer gemeinsam mit Merkel und Hollande in Ventotene Altiero Spinelli und sein Manifest für ein freies und geeintes Europa gewürdigt hat. Denn an diesem historischen Wendepunkt wird einzig und allein ein Europa, das dem politischen Wunsch nach Vollendung der politischen Einigung Ausdruck verleihen, das Egoismen und ablehnende Positionen überwinden und das solide supranationale Institutionen schaffen kann, die anstelle der Staaten im Rahmen ihrer Zuständigkeiten zu handeln und unmittelbar den Bürgern Europas und nicht mehr nur den 27 verschiedenen Völkern Rechenschaft abzulegen vermögen, in der Lage sein, die gefährliche Entwicklung, die auf globaler Ebene im Gange ist, umzukehren. Ohne eine solche Kehrtwendung, die allein die Europäer dank des Beispiels, das sie liefern, friedlich bewerkstelligen können, werden die liberale Demokratie und die Werte der Gleichheit und der sozialen Gerechtigkeit, die das Markenzeichen und der Stolz des Westens sind, hinweggefegt werden. Die Signale, die aus Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika kommen, bestätigen diese Befürchtung auf besorgniserregende Weise.

Die eigentlichen Ursachen der Krise der westlichen Demokratie, die sämtliche Beobachter anführen – einer Krise, die mit der zunehmenden Ablehnung der Globalisierung Hand in Hand geht -, sind letzten Endes sowohl politischer als auch kultureller Natur. Politischer Natur insofern, als die westlichen Staaten, angefangen von den USA bis hin zu den europäischen Staaten, sich als unfähig erwiesen haben, weitblickend auf die Globalisierung zu reagieren, und die Wirtschafts- und Sozialsysteme mit Widersprüchen und Mängeln belastet haben, die die Finanz- und Wirtschaftskrise schonungslos offengelegt hat; und kultureller Natur, weil sich gleichzeitig kein angemessener politischer Gedanke entwickeln konnte, der zum Verständnis der vor sich gehenden Veränderungen und der damit einhergehenden Herausforderungen beigetragen und die Richtung aufgezeigt hätte, in die die Institutionen auf allen Ebenen hätten weiterentwickelt werden können.

Das Ziel hätte darin bestehen müssen, den sozialen Frieden und die Solidarität innerhalb der verschiedenen politischen Gemeinschaften und nach außen hin zwischen Ländern und Völkern zu sichern; ferner darin, das Bewusstsein und das Gefühl der Verantwortung jedes Einzelnen für das allgemeine Interesse zu schärfen und die Bürger konstruktiv am öffentlichen Leben zu beteiligen; und zugleich auch darin, die Folgen der gegenseitigen globalen Abhängigkeit wie auch der technologischen Entwicklungen in den verschiedenen territorialen und sozialen Bereichen zu bewältigen. Dieses Ziel ist jedoch nicht erreicht worden, weil versucht wurde, es mit den althergebrachten und traditionellen, inzwischen jedoch unangemessenen Kategorien der Dichotomie rechts/links zu verfolgen, bis schließlich die jeweiligen Merkmale sich ins Gegenteil verkehrt haben. Erst jetzt beginnt das Verständnis dafür zu wachsen, dass die neue wirkliche Trennungslinie im 21. Jahrhundert vielmehr zwischen dem Phänomen verläuft, das einige Beobachter als „rassistischen Nationalismus“ definieren, und dem, das viele als „kosmopolitischen Liberalismus“ bezeichnen, wobei hier korrekterweise auf den „Föderalismus“ zu verweisen ist, wie er sich im Laufe des europäischen Einigungsprozesses herauskristallisiert und weiterentwickelt hat, und zwar vom Manifest von Ventotene über die Europawahlen, das Projekt Spinelli und die einheitliche Währung bis hin zu den Vorschlägen, die in den letzten Jahren in den Berichten der Europäischen Kommission und von den Präsidenten der Unionsorgane erarbeitet wurden, und den Berichten zur Stärkung der Europäischen Union und zu ihrer institutionellen Umwandlung in eine echte Föderation, an deren Fertigstellung derzeit im Europäischen Parlament gearbeitet wird.

Die Politik – verstanden als etwas Hohes und Erhabenes – befindet sich gegenwärtig am Scheideweg. Ob das Europäische Parlament in der Lage ist, die genannten Berichte entschlossen und mutig voranzutreiben, und ob die Regierungen die Fähigkeit und den Weitblick besitzen, eine notwendigerweise konstituierende Phase einzuleiten – dies wird nicht nur für die Zukunft Europas, sondern das Schicksal der gesamten Welt von entscheidender Bedeutung sein. Wenn demgegenüber gerade die Staats- und Regierungschefs und die Parlamente auch in Zukunft einer verwirrten öffentlichen Meinung blind folgen werden anstatt diese unter Nutzung der ihnen übertragenen Machtbefugnis für das Allgemeingut zu sensibilisieren, dann werden Populismus und Fremdenfeindlichkeit weiter zunehmen und wird die Demokratie untergehen.

Die Zeit drängt und schon bald wird man sehen, wie die Dinge sich entwickeln. Der 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März 2017 muss und kann nur ein Scheidepunkt für Europa sein; bei dieser Gelegenheit wird es nicht genügen, die – wenn auch – notwendigen konkreten politischen Maßnahmen in die Wege zu leiten, um den Bürgern kurzfristig Antworten auf ihre Probleme zu geben, darüber hinaus muss das Projekt der Reform der Institutionen angegangen werden, für das die im Europäischen Parlament erarbeiteten Vorschläge die unverzichtbare Grundlage bilden.

Daher ist es wichtig, an diesem Tag in Rom Präsenz zu zeigen, um deutlich zu machen, dass immer noch ein breiter Konsens darüber besteht, dass Europa geschaffen werden muss, und um einen qualitativen Sprung hin zu einem föderalen Europa zu verlangen.

Lasst uns alle am 25. März 2017 in Rom zusammenkommen!

Publius

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