LAST EUROPEAN LETTER
N. 85 Juli 2025 | Den deutsch-französischen Motor neu starten
Mit der Wahl von Friedrich Merz zum Bundeskanzler und der bestätigten Führung von Emmanuel Macron für die kommenden zwei Jahre scheinen Deutschland und Frankreich nach einer langen Pause endlich bereit zu sein, den europäischen Integrationsprozess neu zu beleben. In einem Kontext, der vom schrittweisen Rückzug der Vereinigten Staaten und der wachsenden Bedrohung durch Russland geprägt ist, bewerben sich die beiden führenden europäischen Länder darum, die Union in einem äußerst gefährlichen Moment zu führen, in dem Sicherheit und Zukunft der Demokratie auf dem alten Kontinent ernsthaft durch innere und äußere Feinde bedroht sind.
Nach seinem Wahlsieg im Februar hat Merz mehrere Tabus in der deutschen Öffentlichkeit gebrochen: Mit einer gemeinsam mit der SPD und den Grünen durchgesetzten Verfassungsreform gelang es ihm, die Schuldenbremse zu überwinden, um – auch mit Defiziten – in die Armee und Infrastruktur zu investieren. Er betonte erneut die Dringlichkeit einer strategischen Autonomie Europas, losgelöst vom amerikanischen Schutz. Außerdem nahm er die bereits von Macron angestoßene Debatte über eine Ausweitung des französischen Nuklearschirms auf Deutschland und die EU wieder auf, für den Fall, dass die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Abschreckung nachlässt. Diese früher als radikal angesehenen Ideen finden heute wachsende Zustimmung auch in anderen europäischen Ländern, darunter die baltischen Staaten, Skandinavien und Polen. Diese Positionen entstehen in einer Zeit, in der die politisch-wirtschaftliche Lage in Deutschland besonders fragil ist: Der Rückgang der Industrieproduktion und der Anstieg der Arbeitslosigkeit untergraben das Vertrauen der Bürger, insbesondere in Ostdeutschland, wo die Ungleichheiten weiterhin ausgeprägt sind.
In diesem Klima setzt der Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD), einer populistischen und nationalistischen Partei, die bereits bei den Wahlen den zweiten Platz belegte und nun in den Umfragen führt, seinen Weg fort. Ihr Erfolg deutet auf eine tiefe Krise der traditionellen Parteien hin. Die Unterstützung durch Persönlichkeiten wie Elon Musk und Mitglieder der Trump-Administration erhöht ihre internationale Sichtbarkeit und ruft Alarm bei den deutschen Geheimdiensten hervor, die sie als Bedrohung für die Demokratie und als unvereinbar mit den verfassungsmäßigen Werten einstufen.

Auch Frankreich durchlebt seinerseits eine alles andere als stabile Phase. Premierminister François Bayrou stützt sich auf ein fragiles Gleichgewicht zwischen Linken, Zentrum und äußerster Rechten. Trotz einer kürzlichen Verurteilung wegen missbräuchlicher Verwendung europäischer Mittel bleiben Marine Le Pen und ihre Partei Favoriten für die Präsidentschaftswahlen 2027. Emmanuel Macron, dessen letztes Mandat sich dem Ende zuneigt, versucht, die Rolle Frankreichs in Europa neu zu beleben, mit einem Fokus auf der Digitalisierung der Wirtschaft und dem Aufbau einer europäischen Verteidigung, unabhängig von den USA.
Er war es auch, der eine „Koalition der Willigen“ vorschlug, um im Falle eines Waffenstillstands Stabilität in der Ukraine zu gewährleisten – mit dem Einsatz französischer und britischer Truppen vor Ort. Obwohl die Initiative in einem rein zwischenstaatlichen Rahmen konzipiert ist, könnte sie dennoch nützlich sein für den Aufbau einer gemeinsamen Verteidigung, da sie den Willen einiger europäischer Länder zeigt, den Widerstand Kiews unabhängig von US-Entscheidungen weiter zu unterstützen. Offensichtlich hängen die Risiken und Chancen, die den französischen und deutschen Regierungen bevorstehen, eng mit der Richtung zusammen, die der europäische Integrationsprozess einschlagen wird.
Der Wettbewerb mit den amerikanischen und chinesischen Industrie- und Technologiegiganten, der Umgang mit dem Handelskrieg, der Aufbau einer glaubwürdigen Abschreckung gegen potenzielle russische Angriffe – all das sind Herausforderungen, denen kein Mitgliedstaat, nicht einmal Frankreich oder Deutschland, allein begegnen kann. Dennoch sind diese Anstrengungen unerlässlich, um konkrete und wirksame Antworten auf die Forderungen der europäischen Bürger zu geben, die Arroganz neokolonialer Mächte auf der internationalen Bühne einzudämmen und die populistische Rhetorik souveränistischer und antidemokratischer Kräfte zu entkräften. In dieser Perspektive ist es entscheidend, dass Paris und Berlin vollständige Einigkeit über strategische Vorschläge erzielen, die darauf abzielen, den europäischen Integrationsprozess ehrgeizig neu zu starten.

Kurzfristig sollten die beiden Regierungen konkrete Initiativen zur Stärkung der europäischen Verteidigungsintegration fördern. Bereits jetzt findet ein Dialog über die Aufstockung der europäischen Verteidigungsfonds statt, der durch umfangreiche gemeinsame Schuldenemissionen unterstützt werden könnte. Beide Regierungen haben sich zudem für die Einführung der qualifizierten Mehrheitsentscheidung im Rat in außenpolitischen Fragen ausgesprochen, um das außenpolitische Handeln der Union wirksamer und kohärenter zu gestalten.
Ein weiteres Thema, das im laufenden Dialog zwischen Paris und Berlin aufgekommen ist, betrifft die Reform der französischen Nukleardoktrin mit dem Ziel, deren Geltungsbereich auch auf Deutschland und möglicherweise auf die gesamte Europäische Union auszudehnen. Die derzeitigen EU-Verträge würden die Annahme einiger dieser Maßnahmen bereits durch einstimmige Beschlüsse im Rat oder Europäischen Rat ermöglichen. Sollten jedoch – wie wahrscheinlich – ein oder mehrere Mitgliedstaaten sich dagegenstellen, müssten Frankreich und Deutschland erwägen, das Einstimmigkeitserfordernis zu überwinden, indem sie eine neue Aktivierung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) gemäß Artikel 46 EUV vorschlagen. Diese Initiative würde es einer Gruppe williger und fähiger Mitgliedstaaten ermöglichen, den Aufbau einer autonomen europäischen Verteidigung voranzutreiben, eventuell unterstützt durch ad-hoc zwischenstaatliche Mechanismen, die ausschließlich den teilnahmewilligen Staaten offenstehen.
Während die gemeinsame Nutzung von Ressourcen und eine Angleichung der außenpolitischen Prioritäten so schnell wie möglich umgesetzt werden sollten, ist es ebenso entscheidend, dass Paris und Berlin eine tiefgreifende Überarbeitung der EU-Verträge vorantreiben. In diesem Sinne ist es bedeutsam, dass Präsident Macron mehrfach seine Unterstützung für eine institutionelle Reform der Union bekräftigt hat – er war der Hauptinitiator der Konferenz zur Zukunft Europas – und dass die Merz-Regierung in ihrem Programm ein klares Bekenntnis zur Vertragsänderung und zur Stärkung der EU-Institutionen abgegeben hat.

Diese Initiative sollte auf dem vom Europäischen Parlament im November 2023 gebilligten Reformprojekt aufbauen, das auf den Ergebnissen der Konferenz zur Zukunft Europas basiert.
Zu den wichtigsten Vorschlägen, die in die Reform aufgenommen werden sollten, gehören:
- Die Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsentscheidung auf alle gemeinsamen Politiken, insbesondere in der Außen- und Verteidigungspolitik.
- Die Einführung einer europäischen Fiskalkapazität und eines gemeinsamen Haushalts, finanziert aus Eigenmitteln, die im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beschlossen werden.
- Die Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments und der Kommission als repräsentative und supranationale Institutionen.
Es ist entscheidend, dass der neue Vertrag unter den Ländern in Kraft treten kann, die ihn ratifizieren – auch ohne Einstimmigkeit – nach einem Modell der Integration mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Dies würde mehr Flexibilität ermöglichen und es den ehrgeizigeren Staaten erlauben, voranzuschreiten, ohne durch einzelne nationale Vetos blockiert zu werden.
Letztlich öffnet sich ein seltenes politisches Zeitfenster: Wenn es den Regierungen in Paris und Berlin gelingt, ihre strategische Konvergenz zu festigen, könnten sie dem europäischen Projekt eine historische Wendung geben, das Fundament für eine souveränere Union legen und gleichzeitig ihre Länder vor möglichen populistischen und antidemokratischen Abwegen bewahren.