N. 71 Oktober 2018 | Entwurf eines Vertrags über die Einrichtung eines Eigenen Haushalts für den Euroraum

Die Krise der Europäischen Union

Die Europäische Union befindet sich heute in einer in ihrer Geschichte beispiellosen Krise. Die gegenwärtige Lähmung des Projekts Europa ist keine Folge spezifischer politischer oder wirtschaftlicher Fragen, wie das in der Vergangenheit der Fall war, in besonders gravierender Art und Weise in der Finanzkrise von 2011 und der Migrationskrise von 2015-2016. Vielmehr ist sie den Wahlerfolgen nationalistischer und antidemokratischer Kräfte zuzuschreiben, die die Strukturen der europäischen Einigung beseitigen wollen. Dies geschieht nicht nur im Namen der Rückkehr zu einer illusorischen nationalen Souveränität, sondern auch im Zuge der Durchsetzung politischer Regime, die lauthals ihre antiliberale Haltung kundtun.

Die antiliberalen Kräfte in den Regierungen lähmen inzwischen die EU, weil sie im Europäischen Rat und im Rat die notwendige Voraussetzung für ein minimales Funktionieren der Union zu Fall gebracht haben, d.h. den gemeinsamen Willen aller Mitgliedstaaten, auch bei unterschiedlichen Auffassungen stets den europäischen Rahmen zu wahren. Unter diesem Aspekt können und dürfen die Vorgänge in Italien nicht unterschätzt werden.

In dieser neu entstandenen Lage haben die von den antieuropäischen Kräften ausgenutzten Themen (insbesondere Migration und wirtschaftliche Probleme), mit denen sie um die Zustimmung der Öffentlichkeit buhlen, lediglich wahltaktische Funktion und entsprechen den realen Ausmaßen der Probleme nur bedingt. Wenngleich zum einen die Ursache des Erfolgs der systemfeindlichen Kräfte in Europa großteils in den Schwierigkeiten der demokratischen Politik liegt, die Globalisierung zu steuern, so stimmt es doch zum anderen auch, dass die antidemokratischen Kräfte selbst zu einem Problem geworden sind, das mit der Lösung der von ihnen instrumentalisierten Probleme nicht verschwinden wird. Um ihrer Propaganda mit wirksamen Lösungen zu begegnen, muss den demokratischen politischen Kräften daher die Neugründung des europäischen Projekts gelingen.


Der Kampf zur Rettung der Demokratie

Frankreich und Deutschland, seit jeher der Motor der europäischen Einigung, tragen jetzt zusätzlich Verantwortung, denn ihre Regierungen sind zu Bollwerken der Demokratie in Europa geworden. Sie haben zwei Aufgaben zu bewältigen: sie müssen Europa retten und bei der Verwirklichung der politischen Einheit des Kontinents das Tempo erhöhen, und sie müssen einen Bezugspunkt für die demokratischen Kräfte im Kampf der Befreiung der Geschichte Europas vom Nationalismus darstellen. An diesem Kampf müssen sich –unbeschadet der spezifischen Unterschiede, die das Parteienspektrum von rechts bis links kennzeichnen – alle Demokraten beteiligen, so wie dies auch im Krieg und dem Widerstand gegen Nationalsozialismus und Faschismus der Fall war. Denn die Gefahr ist heute nicht geringer für Europa, das Gefahr läuft, sich selbst zu zerstören und die kommenden Generationen jeder Zukunftsperspektive zu berauben.

Im Kampf um die Geschicke der Demokratie in Europa sind die Europawahlen im kommenden Jahr grundlegend. Sie werden auch ein Lackmustest sein für die Entschlossenheit der Politik und der demokratischen Kräfte, ein Gegenmodell zu den nationalistischen und antieuropäischen Bestrebungen vorzulegen.

Der Tagung des Europäischen Rates im Dezember kommt diesbezüglich eine zentrale Bedeutung zu. Die Regierungen Frankreichs und Deutschlands haben zugesagt, dann ein Projekt vorzulegen, mit dem einige Herausforderungen der EU gelöst werden können, allen voran die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion. Diese Reform ist im Unterschied zu anderen Bereichen, in denen die Kommission und das Europäische Parlament Vorschläge machen, Sache der Regierungen, und es ist das sensibelste Thema, an dem sich auch ablesen lässt, ob auf dem Weg der politischen Union Fortschritte möglich sind.

Aus den Hinweisen Frankreichs geht hervor, dass der Euroraum zu einer globalen Wirtschaftsmacht gemacht werden soll. Seit einiger Zeit wird in Verhandlungen geprüft, welche Vorschläge gemeinsam vorgelegt werden sollen. Ein erstes Ergebnis wurde mit der Erklärung von Meseberg vom 19. Juni 2018 erzielt. Die zentrale und strittigste Herausforderung ist die Schaffung eines eigenständigen Haushalts für den Euroraum. Ein solcher Haushalt im Rahmen der Währungsunion führt zur Errichtung einer ersten effektiven Steuergewalt auf europäischer Ebene und folglich zur Schaffung einer europäischen Zuständigkeit – neben den einzelstaatlichen Zuständigkeiten in einem Bereich, der bislang im Zentrum der staatlichen Prärogativen stand. Dis ist ein vor allem auf politischer Ebene wichtiger Wandel, weil die Umwandlung des Charakters des institutionellen Systems Europas eingeläutet und ein originär föderales politisches Instrument geschaffen wird. Zudem wird es aus Gründen der demokratischen Nachhaltigkeit notwendig sein, den zur Verwaltung dieser Zuständigkeiten mit autonomer Entscheidungsmacht ausgestatteten europäischen Organen eine demokratische Kontrollbefugnis durch das Europäische Parlament zur Seite zu stellen.

Wenn Frankreich und Deutschland zusammen mit den europafreundlichsten Ländern den Mut haben werden, im Dezember eine solche Reform für den Euroraum vorzuschlagen und sich gleichzeitig für eine Überarbeitung der Verträge in sicheren Zeiten einsetzen, dann wird sich der politische Dialog im Hinblick auf die Europawahlen grundlegend ändern. Die Einigung der demokratischen und proeuropäischen Kräfte auf einer gemeinsamen Plattform für eine Reform der Europäischen Union rückt dadurch in unmittelbare Nähe, und der Wahlkampf bekommt dadurch Substanz, weil die Proeuropäer damit den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern suchen und die Propaganda der systemfeindlichen Kräfte auf der Grundlage einer mutigen und anspruchsvollen Vision entkräften können.


Der Mut der Vorkämpfer

Die Vorlage eines solchen Reformprojekts für den Euroraum im Europäischen Rat wird nicht von allen 27 Mitgliedstaaten unterstützt werden, möglicherweise nicht einmal von allen Mitgliedstaaten des Euroraums. Das grundlegende Problem besteht heute darin, sich aus der Geiselhaft derjenigen Mitgliedstaaten zu befreien, die die Zusammenarbeit in der Union blockieren und die Grundlagen der Europäischen Union selbst zerstören möchten. Daher kommt zur Überwindung des Stillstands dem Thema der differenzierten Integration und der notwendigen Übernahme von Verantwortung durch eine Gruppe von vorangehenden Mitgliedstaaten besondere Bedeutung zu. Es gibt keinen anderen Weg: Im Rahmen der EU27 ist eine schrittweise Reform der Union auf der Grundlage der bestehenden Verträge unvorstellbar. Denn alle vorhandenen Möglichkeiten der Flexibilität setzen bei einer Vertiefung die Zustimmung derjenigen voraus, die sie nicht wollen – und somit zumindest eine konstruktive Rolle der ablehnenden Staaten. Zudem ist in der derzeitigen Lage eine Änderung der Verträge durch alle 27 Mitgliedstaaten nicht machbar.

Das Problem stellt sich übrigens nicht zum ersten Mal in der Geschichte Europas. Die EGKS entstand aufgrund eines Bruchs im Europarat, in dem keine konkreten Schritte in Richtung Integration möglich waren. Nur sechs Staaten teilten den Willen, die erste Europäische Gemeinschaft mit genuin supranationaler Qualität aus der Taufe zu heben. Gleichzeitig war diese Gemeinschaft indes stets für den Beitritt weiterer Staaten offen. Wie immer, wenn es um das Konzept der Vorhut und des harten Kerns geht, darf die Bildung geschlossener Einheiten nicht gescheut werden. Nie ging es dabei um ein Ausschließen, sondern darum, einen Prozess in Gang zu setzen, dem sich dann auch andere, ursprünglich skeptische Länder anschließen können, sobald die Entscheidung dafür gereift ist. Die Entstehung der Währungsunion ist ein weiteres diesbezügliches Beispiel. Dieses Projekt konnte nur dank der Steuerung durch die Vorkämpfer auf den Weg gebracht werden. Dessen war man sich damals durchaus bewusst, wie ein Blick auf die damalige Debatte über Kerneuropa und die Föderation im Staatenbund deutlich macht. Seit Konzipierung des Projekts waren einige Staaten dagegen und haben gegen den Willen der anderen, voranzugehen, darauf bestanden, Sonderbestimmungen des Opt-out in Anspruch nehmen zu können. Aber auch in den Staaten, die sich dem Projekt angeschlossen hatten, waren die Vorbehalte und Schwierigkeiten so groß, dass ein starkes Handeln Frankreichs und Deutschlands erforderlich war. Sie haben so einen Mechanismus in Gang gesetzt, der die anderen, zu einem unmittelbaren Beitritt zuerst wenig bereiten Staaten dazu brachte, sich darauf vorzubereiten.

Ebenso hat der Fiskalpakt unlängst gezeigt, wie einige für das Funktionieren der EU unabdingbare Entscheidungen auch nur von einem Teil der Mitgliedstaaten mehrheitlich getroffen werden können. Dass letztlich 25 Mitgliedstaaten beigetreten sind ist der Beleg dafür, dass sich die Zahl der Beitritte multipliziert, wenn eine Initiative erst einmal auf den Weg gebracht ist. Der Vorläufer des am 1. Januar 2013 in Kraft getretenen Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion belegt zweierlei: zum einen, dass auch mit Unterzeichnung eines internationalen Vertrags zwischen den EU-Mitgliedstaaten weiterhin im Rahmen der Europäischen Union mit Unterstützung der Gemeinschaftsinstitutionen gehandelt kann. Zum anderen, dass dieser Vertrag mehrheitlich, ohne Einstimmigkeit zu erzielen, in Kraft gesetzt werden kann.

Heute brauchen wir dieselbe Entschlossenheit, und es steht sehr viel mehr auf dem Spiel als in der Vergangenheit. Deshalb müssen Frankreich und Deutschland den mit der Einführung des Euro beschrittenen Weg wieder einschlagen. Wie damals muss die Idee eines harten Kerns von Ländern wieder propagiert werden, die als Magnet gegen die Zentrifugalkräfte fungieren. Wie damals müssen wirkungsvolle Bedingungen für eine starke Integration geschaffen werden, die die Geschicke der Staaten miteinander verbinden. Anders als damals muss die politische Natur der Initiative in institutionelle Änderungen umgemünzt werden, die zum Entstehen einer politischen Souveränität Europas führen.

In dieser Perspektive wollen wir als Beitrag zu dem seit der Erklärung von Meseberg laufenden Prozess und im Hinblick auf die Erarbeitung der Vorschläge für den Europäischen Rat im Dezember den Entwurf eines möglichen Vertrags vorlegen, von Paolo Ponzano, Giulia Rossolillo und Luca Lionello, um die Reform der Währungsunion mit Zielrichtung einer – lange für unmöglich gehaltenen – echten politischen Union auf den Weg zu bringen.

Luisa Trumellini
Movimento Federalista Europeo

Mailand, den 15. September 2018


ENTWURF FÜR EINEN ZWISCHENSTAATLICHEN VERTRAG DER
STAATEN DES EURO-WÄHRUNGSRAUMS

DIE UNTERZEICHNETEN MITGLIEDSTAATEN DER EUROPÄISCHEN UNION, DEREN WÄHRUNG DER EURO IST, IM FOLGENDEN „DIE VERTGRAGSPARTEIEN“,

in dem Wunsch, weitere Schritte auf dem Weg der politischen Integration Europas zu unternehmen;

in dem Bewusstsein, dass andere europäische Staaten gleichwohl in der gegenwärtigen Situation nicht gewillt sind, diese Schritte nach vorne zu unternehmen und die diesbezügliche Teilung der Souveränität zu akzeptieren;

in Anbetracht der Sorge, dass die gegenwärtige Asymmetrie zwischen der mit einer eigenen und von den einzelnen Staaten unabhängigen Souveränität ausgestatteten Währungsunion und der Wirtschaftsunion, die lediglich auf der Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken beruht, mit der Zeit die Stabilität des Euroraums bei wirtschaftlichen und asymmetrischen Schocks in den verschiedenen Staaten bedrohen könnte;

in der Erwägung, dass diese Gefahr im Falle einer neuen Wirtschaftskrise nach dem Ende der von der EZB durchgeführten Interventionsverfahren und angesichts mangelnder mit ausreichenden Mitteln ausgestatteter Stabilisierungsmechanismen, mit denen solche asymmetrische Schocks in den Staaten des Euroraums abgefedert werden können;

in der Überzeugung, dass die wirtschaftliche Konvergenz zwischen den Staaten des Euroraums gefördert, die Investitionen angeregt und die Arbeitslosigkeit gesenkt werden müssen;

in der Überzeugung, dass eine solide Verwaltung der öffentlichen Finanzen seitens der Vertragsparteien mit einem stärkeren Wirtschaftswachstum im Euroraum einhergehen muss,

SIND WIE FOLGT ÜBEREINGEKOMMEN:

ARTIKEL 1

Mit dem vorliegenden Vertrag beschließen die Vertragsparteien in ihrer Eigenschaft als Mitgliedstaaten des Euroraums: a) einen vom Haushalt der Europäischen Union getrennten und diesen ergänzenden Haushalt aufzustellen mit dem Ziel, die Konvergenz und die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der Vertragsparteien mittels Investitionen in die Innovation und die Entwicklung der Humanressourcen anzuregen; b) ein als Europäischer Beschäftigungsfonds bezeichnetes Ad-hoc-Instrument zu schaffen, um bei schweren Krisen und/oder asymmetrischen Schocks auf den daraus resultierenden unerwarteten Anstieg der Arbeitslosigkeit in einigen Staaten zu reagieren.

ARTIKEL 2

Dieser eigene Haushalt verfügt über Mittel von insgesamt 80 Milliarden EUR jährlich. Die Haushaltsmittel stammen in den ersten drei Jahren aus einzelstaatlichen Beiträgen der Vertragsparteien. Um die Ziele des vorliegenden Vertrages erreichen zu können, werden die einzelstaatlichen Beiträge zu diesem Haushalt auf das Verhältnis zwischen 3 % jährlichem Haushaltsdefizit und Bruttoinlandsprodukt der Vertragsstaaten gemäß Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht angerechnet.

Der Beschäftigungsfonds verfügt über Mittel von 8 Milliarden EUR jährlich, die aus einzelstaatlichen Beiträgen der Vertragsparteien stammen. Auch in diesem Falle werden die einzelstaatlichen Beiträge für den Fonds nicht auf das im Stabilitäts- und Wachstumspakt vorgesehene Verhältnis zwischen 3 % jährlichem Haushaltsdefizit und Bruttoinlandsprodukt der Vertragsstaaten angerechnet. Der Fonds wird bei Vorliegen spezifischer Bedingungen automatisch aktiviert.

ARTIKEL 3

Die finanziellen Beiträge der Vertragsparteien zum Haushalt und zum Fonds entsprechen anteilsmäßig ihrem Beitrag zum Haushalt der Europäischen Union. Der Haushalt und der Fonds werden von der Europäischen Kommission in Zusammenarbeit mit den Vertragsparteien auf der Grundlage der dem vorliegenden Vertrag beiliegenden eigenen Haushaltsordnung verwaltet. Insbesondere hat die Kommission darauf zu achten, dass die Mittel des Haushalts und des Fonds ausschließlich zum Erreichen der in Artikel 1 des vorliegenden Vertrags genannten Ziele und nicht für Ausgaben im Rahmen des EU-Haushalts, die allen Mitgliedstaaten zugutekommen, verwendet werden. Die Europäische Kommission trägt die Verantwortung für die Ausführung des vorliegenden Haushalts und des Fonds und erstattet dem Europäischen Parlament darüber Bericht.

ARTIKEL 4

Die Vertragsparteien entscheiden spätestens im Verlauf des dritten Jahres nach dem Zeitpunkt des Inkraftretens des vorliegenden Vertrags über die Maßnahmen, die zur Sicherstellung der anschließenden Finanzierung des vorliegenden Haushalts und des Fonds[1] sowie zur Aufnahme der Bestimmungen des vorliegenden Vertrags in die Rechtsordnung der Europäischen Union notwendig sind. Diesbezüglich verpflichten sich die Vertragsparteien, für eine umfassende Änderung der Verträge einzutreten.

ARTIKEL 5

Der vorliegende Vertrag ist offen für den Beitritt eines jeden Mitgliedstaates der Europäischen Union, der sich für die Einführung des Euro als einheitliche Währung der Union entschlossen hat.

ARTIKEL 6

Der vorliegende Vertrag wird von den Vertragsparteien nach Maßgabe ihrer verfassungsrechtlichen Bestimmungen ratifiziert. Er tritt am 1. Januar 2021 in Kraft unter der Bedingung, dass mindestens drei Viertel der Vertragsparteien ihre Ratifizierungsurkunde beim Sekretariat des Rates der Europäischen Union hinterlegt haben.


[1] Die Vertragsparteien entscheiden dabei auch darüber, ob der vorliegende Haushalt bzw. der Fonds weiterhin durch einzelstaatliche Beiträge gemäß Artikel 2 oder durch Eigenmittel der Europäischen Union oder ggf. durch eine von den Vertragsparteien zwischenzeitlich beschlossene europäische Ad-hoc-Steuer finanziert werden soll.

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