N. 75 Februar 2022 | Was bei dem Konflikt zwischen dem Europäischen Gerichtshof und Polen auf dem Spiel steht

Die erste Ausgabe von Europaische Brief widmet sich der Analyse des Justizproblems, mit seinem Ursprung im Konflikt zwischen Polen, das mit seinem autoritären Kurs zu kämpfen hat, und der Europäischen Union , die versucht, die Werte der Rechtsstaatlichkeit zu wahren.

Die Europäische Union ist an einem entscheidenden Moment ihres Integrationsprozesses angelangt und steht nun vor einer Reihe existenzieller Entscheidungen. Auf der Habenseite ist die Beschleunigung der fiskalpolitischen Integration im Zuge der Einrichtung von NextGenerationEU und die – durch die Konferenz zur Zukunft Europas eröffnete – Aussicht auf eine Reform der Verträge zu verzeichnen. Andererseits wird die Union dadurch herausgefordert, dass einige ihrer Mitgliedstaaten in den Autoritarismus abgleiten und in den vergangenen Jahren mithilfe einer Reihe von Verfassungsänderungen die – auch in den europäischen Verträgen verankerten – Grundsätze des Rechtsstaats demontiert haben.

Die Krise der Demokratie ist ein Problem, das alle Mitgliedstaaten betrifft. In zwei Mitgliedstaaten jedoch, in Ungarn und in Polen, ist derzeit ein gravierender und unkontrollierter autoritärer Vormarsch zu beobachten, der sie ihrer Pressefreiheit und der Unabhängigkeit ihrer Justiz beraubt hat. Es ist bemerkenswert, dass die antidemokratischen Bestrebungen der Regierungsparteien der beiden Länder eng mit der Souveränitäts-Doktrin verbunden sind, zu deren Fürsprecher sie sich aufgeschwungen haben: Die Europäische Union ist tatsächlich der letzte Rettungsanker für die Grundsätze der Pluralität, der Demokratie und des Rechtsstaats, um die Vollendung des angestrebten autoritären Umbaus dieser Länder noch verhindern (oder zumindest verlangsamen) zu können.

Die europäischen Organe haben zur Eindämmung der Krise der Demokratie in Polen und Ungarn in den letzten Jahren eine Reihe von Maßnahmen ergriffen: zum einen im Rahmen politischer Ansätze auf der Grundlage des Dialogs, die jedoch im Wesentlichen gescheitert sind. Zum anderen unlängst im Zuge der Annahme einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates auf Initiative der Kommission. Mit dieser Verordnung werden allgemeine Auflagen für den Zugang zu EU-Haushaltsmitteln bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit eingeführt[1].

In den vergangenen Jahren hat auch der Europäische Gerichtshof insbesondere in Bezug auf die Republik Polen eine Reihe von Urteilen erlassen, um die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit zu wahren. Die Luxemburger Richter haben in diesen Urteilen einige der umstrittensten Umgestaltungen des polnischen Justizsystems angeprangert, darunter die Reform des Verfassungsgerichts, dessen Zusammensetzung verändert wurde, um es der Regierungsmehrheit gefügig zu machen[2], sowie die Einrichtung einer Disziplinarkammer des Obersten Gerichts, die für die Überprüfung von Entscheidungen in Disziplinarverfahren gegen Richter zuständig ist, ohne aber über die erforderliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu verfügen[3]. Eben in Antwort auf diese Rügen hat das Verfassungsgericht auf Antrag des polnischen Ministerpräsidenten am 7. Oktober 2021 eine Stellungnahme veröffentlicht. Darin wird die Verfassungswidrigkeit der europäischen Verträge (nach Auffassung des Verfassungsgerichts) erklärt, da diese es den europäischen Organen gestatten würden, unter Überschreitung ihrer Befugnisse (ultra vires) das Vorrecht der polnischen Verfassung zu negieren und Polen – nach Worten des polnischen Verfassungsgerichts – davon abzuhalten, wie ein demokratischer und uneingeschränkt souveräner Staat zu handeln.

Das Urteil ist ganz offensichtlich ein gravierender Angriff auf den Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts. Dieser Grundsatz, der auf den für die föderalen Rechtsordnungen geltenden Vorrangklauseln beruht, wurde in der Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil Costa/Enel von 1964 bekräftigt. Er sieht vor, dass im Falle eines Konflikts zwischen einer europäischen und einer einzelstaatlichen (auch verfassungsrechtlichen) Vorschrift letztere nicht anzuwenden ist. Dadurch konnte der Gerichtshof seit über 50 Jahren die Integrität und die Wirksamkeit der europäischen Ordnung sicherstellen. Dank des Grundsatzes des Vorrangs des EU-Rechts kann die Europäische Union in allen Mitgliedstaaten ihre Vorschriften umsetzen und ihre Politik weiterentwickeln. Ohne diesen Grundsatz könnten die Staaten ganz einfach diejenigen europäischen Vorschriften, die ihnen nicht mehr zweckmäßig erscheinen, ignorieren oder nicht mehr anwenden.

Leider ist die Entscheidung des polnischen Gerichts, den Vorrang des Unionsrechts (und damit letztlich die Aufrechterhaltung der gesamten Rechtsordnung der Union) in Frage zu stellen, kein isoliertes Phänomen, sondern vielmehr der eklatanteste Fall eines Konflikts zwischen europäischen und nationalen Richtern. Die ausgebliebene Entwicklung der Union zu einem Föderalstaat hat zu einem Spannungsverhältnis zwischen der Ausübung politischer Souveränität und direkter demokratischer Kontrolle durch die Bürgerinnen und Bürger, die auf die nationale Ebene beschränkt bleiben, einerseits und anderseits dem supranationalen Charakter einiger Befugnisse und Vorrechte, die von den europäischen Organen wahrgenommen werden und die für das Funktionieren der Europäischen Union unerlässlich sind, geführt.

Im Laufe der Zeit legten deshalb die obersten Richter der einzelstaatlichen Rechtsordnungen dem Grundsatz des Vorrangs Bedingungen und Grenzen auf. Diese Vorbehalte wurden zwar anfänglich nur auf abstrakt-theoretischer Ebene vorgebracht (Verletzung der Grundrechte durch die Union), sie wurden dann aber mit der Zeit auf immer umfangreichere Bereiche ausgedehnt und dem Ermessensspielraum der nationalen Verfassungsrichter unterworfen (mittels Überprüfung in puncto ultra vires und dem Konzept der Verfassungsidentität). So hat auch das Karlsruher Bundesverfassungsgericht – noch bevor das polnische Gericht den Vorrang des nationalen Verfassungsrechts vor europäischem Recht postulierte – das Urteil des EuGH bei der Beurteilung der Rechtsmäßigkeit des Programms zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors (PSPP) durch die EZB für ungültig erklärt[4].

Abgesehen von der richtigen Reaktion des EuGH, der Polen auch zur einer Zahlung von einer Million Euro pro Tag an die Europäische Kommission verurteilte, hat die Konfrontation mit dem polnischen Verfassungsgericht gezeigt, dass die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten immer noch die einzigen Hoheitsträger in letzter Instanz sind, die Grundlagen der europäischen Rechtsordnung bedroht, insbesondere im Falle einer Krise der Rechtsstaatlichkeit.
Neben den Maßnahmen zur Eindämmung der autoritären Welle in einigen Mitgliedstaaten muss die strukturelle Lösung der Krise der nationalen Demokratie deshalb in der Stärkung der europäischen Demokratie liegen.

Dies ist nur im Zuge einer föderalen Entwicklung der Union möglich. Auch deshalb muss auf der Konferenz zur Zukunft Europas unbedingt die Debatte über diese politisch-institutionellen Reformen und die Übertragung der Zuständigkeiten geführt werden, die es ermöglichen, der Union die Instrumente und die Machtbefugnis an die Hand zu geben, um zu verhindern, dass die Werte der Union und die Bürgerrechte auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten mit Füßen getreten werden.

Publius


[1] Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2020 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union.

[2] Urteil vom 24. Juni 2019 in der Rechtssache C-619/18, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts).

[3] Urteil vom 15. Juli 2021 in der Rechtssache C-791/19, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter).

[4] Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts zum Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors vom 5. Mai 2020.

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